Kieselsteine : Geschichten einer Kindheit

Welsh, Renate, 2019
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Medienart Buch
ISBN 978-3-7076-0671-3
Verfasser Welsh, Renate Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen, Novellen (dt.)
Verlag Czernin Verlag
Ort Wien
Jahr 2019
Umfang 120 Seiten
Altersbeschränkung keine
Auflage [1. Auflage]
Sprache deutsch
Verfasserangabe Renate Welsh
Annotation Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Alexander Kluy;
Vieles war schön
Renate Welshs »Geschichten einer Kindheit«
Vieles war schön gewesen. Wenn vom Wiental der Sturm durch die Schneise der Testarellogasse herauf tobte und sich am Haus brach, an den Fenstern rüttelte und die Vorhänge sich bauschten, wenn die Kristallgehänge am Luster im Wohnzimmer ab und zu einen leisen Ton anschlugen, da war das Haus eine Burg, eine sichere Burg. Das Halmabrett zwischen mir und Großvater, sein vergnügtes Schnauben, wenn ihm ein besonders weiter Sprung gelungen war, aber auch, wenn ich es geschafft hatte, ihn mit einem Zug zu verwirren. Wir spielten immer im Wohnzimmer, nie im Salon. Im Salon hätte ich es nie gewagt, laut zu lachen oder herumzuhüpfen. Ich wäre ebenso wenig auf eine solche Idee gekommen wie in der Kirche.«
Kieselsteine nennt die 1937 geborene Wienerin Renate Welsh, Autorin zahlreicher Bücher für Kinder und Jugendliche ihren Band mit Memoir-Vignetten aus ihrer Kindheit, in denen »vieles schön gewesen« war. Es ist eine Prosa von großer Eindringlichkeit. Bewusst entschlägt sie sich einer chronologischen oder hierarchischen Anordnung der zwölf einzelstehenden Texte. In diesen geht es um den für sie so wichtigen, ja emotional zentralen Großvater, der starb, als sie acht Jahre jung war, es geht um die Mutter, an die sie sich jenseits von Photographien kaum erinnern kann, weil sie starb, als Renate noch jünger war, nämlich gerade einmal vier. Es geht um Verluste und um Verlustaufhebungen durch die Urkraft des Berichtens, Schreibens und erinnernden Beschreibens. Es geht auch um den Vater, der hart anmutete, sich jahrelang mit dem Vater, einem Apotheker, überworfen hatte, weil er nach dem Pharmaziestudium sich entschlug, in dessen Geschäft einzusteigen und stattdessen ein Medizinstudium anhängte, es erfolgreich absolvierte und dann im selben Haus, in welchem die Apotheke untergebracht war, ordinierte. Es geht um sie selbst als kleines Kind, um ihre Ängste vor dem Nikolaus und um Anderseinsichten in eine Welt, die noch zu groß war, um sie allumfassend zu erkennen, um Beklemmungen und um Renitenz.
Der Grundimpetus ist im ersten Zugang negativ zu fassen. Es ist kein Rechtfertigungsbuch. Es handelt sich nicht um ein Anklage- oder Anschuldigungsbuch eines der berührendsten Stücke ist eine nachgetragene Liebeserklärung an die Stiefmutter, einst als unerbittlich bis emotional überzogen hart empfunden, als Störfall innerhalb der Familie, zu der dann kurz vor deren Tod sich eine enge, eine nahe Verstehensverbindung einstellte. Es ist auch kein Buch, in dem das Herz bis zur Neige entblößt wird inklusive Indiskretionen oder grenzwertiger Konfessionen; auch wenn es im Finale überdeutlich wird, wie sehr sie daran leidet, dass ihr langjähriger Lebenspartner, ein Mediziner, für die Ordination im 13. Wiener Gemeindebezirk, in der er 40 Jahre tätig war und in der bereits ihr Vater viele Jahre arbeitete, keinen Nachfolger fand und diese zusperrte, woraufhin sie in dem Haus, das sie schon als Kind kannte, also an die sieben Jahrzehnte, zu einer ausgeschlossenen Fremden wurde.
In einer zweiten, tiefer reichenden Lesart ist dies eine Hommage ans Leben, an die Vergänglichkeit und an eine aufgehobene Zeit, an die prägenden Figuren ihres Lebens, zuvörderst ihren Großvater und ihren Vater, die nahezu durchgehend auftreten und aufscheinen, in ganz verschiedenen Rollen, hier empathisch und vertrauensvoll, dort bitter und melancholisch, auch Konventionen in den Wind schlagend (der Vater war amourös außerehelich beflissen).
Es ist ein persönliches Buch, das immer wieder den Fokus weitet und den Blick hebt ins Überpersönliche, weit über die kleine Welt der Kindheit, die Lokalitäten Wien und Aussee, hinaus und hinweg, in dem die Autorin als Kind die Kriegsjahre verbrachte. Am deutlichsten ist dies vielleicht in der Schlussgeschichte der Fall, in der es um eine Wiener jüdische Familie geht, die nach 1934 in die USA auswanderte, alles Materielle zurückließ und wie sich die Jüngste, Trudi mit Namen, dort fremd fühlte, sich sowohl der christlichen Taufe verweigerte sie ließ im Nachhinein das Formular vom Pastor vor ihren Augen zerreißen , der die anderen Familienmitglieder sich unterzogen, und erst recht der Namensänderung, auf dass sie im neuen Land nicht ganz so »jüdisch« klängen. Jahrzehnte später lernte Welsh Trudi, die knapp zehn Jahre vorher auf dieselbe Wiener Schule gegangen war wie sie, in New York kennen.
So ist das merkwürdig anmutende Wort von den Kieselsteinen, dem Lockersediment, im Titel rasch einleuchtend. Und aufleuchtend. Um Sedimente, um Ablagerungen geht es hier, in gänzlich unprätentiöser Weise. Steckt man das kieselige Gestein doch bei einem Strand- oder Stromspaziergang ein, eher en passant, mit leichtem streifendem interessiertem Blick, kann man die Steine immer wieder anders anordnen; zudem sind sie taktile haptische Objekte, die der Haut ganz nahekommen. Man kann sie auch ausstreuen, absichtslos, kunstvoll, sprachlich von ausgesucht bedachter Anmut, so wie dies Renate Welsh macht. »Es ist seltsam«, liest man nach zwei Drittel des Bandes, »wie das Schreiben Erinnerungen freilegt, die vorher nicht einmal einen Herzschlag lang ein unbestimmtes Gefühl waren, weil eine Berührung, ein Ton, ein Wort, ein Geruch, ein Geschmack eine Saite in uns zum Schwingen brachte, die wir gar nicht kannten. Plötzlich steht etwas da und ist gegenwärtiger als das, was wir jeden Tag halb bewusst erleben. Wobei die Zeit verrückte Rösselsprünge aufführt, die Frage nach vorher und nachher, die wir so gerne stellen, bleibt so gut wie immer ungelöst. Ich bin überzeugt, dass sich Erinnerung gerade dort als echt erweist, wo sie voller Widersprüche ist.«

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Quelle: STUBE (http://www.stube.at/);
Seitenweise Kinderliteratur 2019
So wie auf jüdischen Friedhöfen Steine zur Erinnerung an die Verstorbenen auf die Gräber gelegt werden, so erinnern auch diese autobiographischen Erzählungen an verstorbene Menschen, die im Leben von Renate Welsh, vor allem in ihrer Kindheit, Bedeutung hatten. Während manche Szenen deutlich und detailreich hervortreten, scheinen andere zu verschwimmen, einige Ereignisse fließen ineinander, andere brechen ganz plötzlich ab. Die Eindrücke und Gefühle des Kindes erscheinen dadurch intensiv und unmittelbar. Der letzte Text schildert das Schicksal der Altersgenossin Trudi Eppstein, die dieselbe Schule wie Renate Welsh besuchte, diese aber 1938 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verlassen musste. Die Erzählung von Trudis Diskriminierungs- und Emigrationserfahrungen konterkariert die Erinnerungen der Autorin und unterstreicht deren Subjektivität.
*STUBE*
Exemplare
Ex.nr. Standort
8993 DR, Wel

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